Mord Ahoi- Leseprobe

Die folgende Leseprobe ist nicht der Beginn der Geschichte, sondern schildert Elfies erste Nacht an Bord des Kreuzfahrtschiffes.

ls Elfie ihre Kabine betrat, standen die Türen des Kleiderschranks weit offen, aber sie war sich absolut sicher, dass sie sie geschlossen hatte. War jemand eingebrochen? Schnell kontrollierte sie, ob etwas fehlte. Es befand sich jedoch alles an seinem Platz, genauso wie sie ihre Sachen eingeräumt hatte. Nachdenklich klappte sie die Schranktüren zu. Am liebsten hätte sie den Schrank abgesperrt. Einen Schlüssel gab es allerdings nicht. Elfie fühlte sich mit einem Schlag unwohl und setzte sich kraftlos auf das Bett. In ihrem Kopf dröhnte und hämmerte es. Ihr ganzer Körper schien zu vibrieren.
Konnte daran der Alkohol schuld sein? Nein, so viel hatte sie nicht getrunken. Wahrscheinlich war sie übermüdet. Nach einer geruhsamen Nacht wäre sie wieder frisch und munter. Unter Aufbietung ihrer letzten Energiereserven erhob sie sich und ging ins Bad. Als sie zurückkam, blieb sie wie angewurzelt stehen. Die linke Tür des Kleiderschranks stand erneut einen Spalt breit offen.
Langsam zweifelte Elfie an ihrem Verstand. Oder trieben die Geister der griechischen Göttinnen ihr Unwesen auf dem Schiff? Wollte etwa eine von ihnen die schöne Ordnung der Themis durcheinanderbringen?
Angesichts dieser krausen Gedanken schalt Elfie sich selbst eine Närrin. Sie schloss die Schranktür mit Nachdruck, legte sich ins Bett und löschte das Licht.
Nach einer Weile ging das Hämmern in ihrem Kopf in ein stampfendes Geräusch über, das leichter zu ertragen war. Langsam glitt Elfie in den Schlaf hinüber. Wie aus weiter Ferne drang ein Quietschen in ihr Bewusstsein.
Voller Panik öffnete sie die Augen. Es war stockdunkel. Dennoch spürte Elfie, dass sich etwas in der Kabine bewegt hatte. Mit zitternden Fingern tastete sie nach dem Lichtschalter.
Als die Lampe über ihrem Bett aufleuchtete, hielt Elfie entsetzt die Luft an. Dies Mal war es die rechte Schranktür, die schräg in den Raum hineinstand.
Elfie schlug die Bettdecke zurück. Ihr ganzer Körper kribbelte, als ob Hunderte von Ameisen darüber laufen würden. War das nicht ein typisches Symptom für Delirium tremens? Wie viel hatte sie eigentlich getrunken? Sie wusste es nicht, da Odenfels immer wieder nachgeschenkt hatte.
Sie zog sich rasch an und verließ die Kabine. Vielleicht brauchte sie ein wenig Bewegung und frische Luft, damit sie schlafen konnte.

Zunächst lenkte Elfie ihre Schritte zur Rezeption, wo sie nach einem Aspirin gegen ihre dröhnenden Kopfschmerzen fragen wollte.
Hinter dem Tresen saß ein junger Mann und arbeitete am Computer. Als Elfie näher kam, stand er sofort auf und lächelte sie an.
"Wie kann ich Ihnen helfen?", fragte er zuvorkommend.
Sein Namensschild wies ihn als Mike aus.
"Hätten Sie eine Schmerztablette für mich?", bat Elfie. "Mein Kopf ..."
Sie stoppte mitten im Satz und horchte in sich hinein.
"Sehr seltsam", fuhr sie dann fort. "In meiner Kabine dröhnte mir noch furchtbar der Kopf. Jetzt sind die Schmerzen wie weggeblasen."
Mike betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. "Darf ich fragen, wo sich Ihre Kabine befindet?"
"Auf Deck Themis, ganz hinten am Heck", erklärte Elfie.
"O je." Mike zuckte mit den Schultern. "Das ist direkt über dem Maschinenraum."
"Das Hämmern und Stampfen findet also nicht in meinem Kopf statt, sondern kommt von den Motoren?" Elfie war erleichtert, dass es einen äußerlichen Grund für ihr Unwohlsein gab. "Dagegen hilft wohl kein Aspirin."
"Nein", bekräftigte Mike. "Aber ich kann Ihnen Ohrstöpsel geben, die dürften das Problem beheben."
Er öffnete eine Schublade und legte drei Schachteln auf den Tisch.
"Sie haben die Wahl zwischen Wachs, Schaumstoff und Silikon", erklärte er. "Ich würde Ihnen die klassischen Wachskügelchen empfehlen. Die dichten am besten ab."
"Klassisch ist immer gut, vor allem auf diesem Schiff", meinte Elfie. "Mich wundert, dass die Ohrstöpsel nicht nach Figuren der griechischen Mythologie benannt sind."
Mike räusperte sich. "Um ehrlich zu sein, tragen unsere Wachskügelchen den Namen Odysseus. Der hat nämlich schon die Ohren seiner Schiffsmannschaft mit Kugeln aus Bienenwachs vor dem tödlichen Gesang der Sirenen verschließen lassen."
Auf der Aphrodite besaß sogar der Nachtportier eine humanistische Bildung. Elfie war beeindruckt.
"Wenn das so ist, nehme ich eine Packung Odysseus", sagte sie.
Mike griff erneut in die Schublade und förderte etwas zutage, das wie ein eingelaufener trägerloser BH aussah.
"Wir haben auch Schlafmasken", erläuterte er. "Durch die dreidimensionale Formgebung entsteht kein Druck auf Augenlider und Wimpern, und man schwitzt nicht so leicht. Sie sind völlig lichtundurchlässig."
Elfie lachte auf. "Die brauche ich nicht. Vielen Dank. Ich habe eine Innenkabine. Da herrscht absolute Dunkelheit." Dann setzte sie hinzu: "Ich wette, die Schlafmaske hat auch einen griechischen Namen. Lassen Sie mich raten! Heißt sie Morpheus?"
"Nein, aber Sie sind ganz nah dran." Mike grinste. "Die Maske heißt Hypnos. Das ist der Gott des Schlafes. Morpheus ist sein Sohn, der Gott der Träume."
Er verstaute die Maske wieder in der Schublade.
Elfie bedankte sich und wollte schon gehen. Da fielen ihr die Schranktüren wieder ein.
"Da wäre noch etwas." Sie sah Mike prüfend an.
Würde er sie für verrückt halten? Sie suchte nach den passenden Worten.
"Mit dem Schrank in meiner Kabine stimmt etwas nicht", tastete sie sich langsam vor.
"Inwiefern?" Mike neigte den Kopf zu einer Seite, wodurch sein Doppelkinn deutlich zutrage trat.
"Die Türen gingen heute Nacht mehrmals von allein auf ? wie durch Geisterhand", sagte Elfie stockend. "Heute Nachmittag war das nicht der Fall."
"Auch dafür gibt es eine simple Erklärung", sagte Mike. "Am Nachmittag waren wir noch im Hafen. Doch seit dem Auslaufen arbeiten die Maschinen auf Hochtouren. Am Heck befindet sich der Antriebsstrang, von dem ziemlich starke Vibrationen ausgehen. Die können schon einmal eine Schranktür öffnen. Wenn Sie das stört, stellen Sie einen Stuhl davor."
"Ich bin froh, dass es eine logische Erklärung für alles gibt", sagte Elfie erleichtert. "Ich sah mich schon mit einem Fuß in der Gummizelle. Jetzt verstehe ich die Zusammenhänge und kann etwas dagegen tun. Besten Dank und eine gute Nacht."
Sie nahm die Ohrstöpsel und machte sich auf den Rückweg. Jetzt noch ein wenig frische Luft.
Sie stieg bis zum Promenadendeck hinauf, trat ins Freie und atmete die kühle Nachtluft in tiefen Zügen ein. Sie ging ein paar Schritte, blieb dann an der Reling stehen und sah hinauf in den klaren Himmel, an dem Tausende von Sternen funkelten.
Schade, dass sie diesen Augenblick nicht mit Paul-Friedrich teilen konnte. Sie seufzte und stützte sich mit den Händen auf dem Geländer ab. Erschrocken fuhr sie zurück, als das Holz unter ihrem Gewicht nachgab.
Nachdem ihr Herzschlag sich wieder normalisiert hatte, trat sie erneut an die Reling und untersuchte die Stelle genauer. Sowohl die Metallverstrebungen als auch der obere Abschlussbalken waren hier auf einer Breite von rund sechzig Zentimetern nicht fest mit der übrigen Reling verbunden, sondern nur mit Schrauben an den Seitenstreben befestigt.
Elfie ging einen Schritt nach links und prüfte dort die Reling. Bombenfest! Sie umklammerte den sicheren Teil mit einer Hand und rüttelte an dem eingesetzten Stück.
Es bewegte sich ein paar Zentimeter vor und zurück. Vorsichtig beugte Elfie sich nach vorn. Die Schrauben waren nicht festgezogen. Auf der Breite des eingesetzten Teils führte eine Leiter nach unten, wahrscheinlich für Wartungsarbeiten. Deswegen konnte man hier ein Stück der Reling herausnehmen. Elfie folgte mit den Augen dem Verlauf der Leiter, die irgendwo im Nichts endete. Erst viel weiter unten entdeckte Elfie die Wasseroberfläche und starrte gebannt auf die Bewegung der Wellen. Glücklicherweise war sie schwindelfrei und hielt sich zudem gut fest. Dennoch flößte ihr die enorme Höhe gewaltigen Respekt ein. Es waren bestimmt zwanzig Meter.
Sollte hier jemand hinunterfallen, starb er wahrscheinlich schon durch den Aufprall. Wenn nicht, wie lange konnte man sich in offener See über Wasser halten? Bis ein so großes Schiff gewendet hatte, war man wahrscheinlich schon untergegangen. Und wenn überhaupt niemand bemerkte, dass man über Bord gefallen war? Dann sanken die Überlebenschancen auf null.
Elfie richtete sich wieder auf und ging nachdenklich davon.
Auf dem Rückweg nach unten kam ihr eine fröhliche Truppe von Passagieren entgegen, unter ihnen der Glatzkopf, der am Black-Jack-Tisch fünfzig Euro in die Trinkgeldkasse gesteckt hatte. Er schwenkte eine Magnum-Champagnerflasche in der Hand.
Elfie beschloss, noch einmal beim Casino vorbeizugehen. Als sie um die letzte Ecke bog, sah sie den schicken Kreuzfahrtdirektor Max Kaiser gerade mit energischen Schritten den Saal betreten und die Türen hinter sich schließen.
Elfie ging die letzten Meter auf Zehenspitzen und lugte vorsichtig durch die Glasscheiben. Niemand zu sehen. Sachte drückte sie die Klinke herunter und öffnete die Tür einen Spalt.
Erregte Stimmen drangen an ihr Ohr. Langsam schob Elfie sich in den Raum hinein und erspähte Kaiser hinten bei den Spielautomaten. Er redete auf Chefcroupier Leo Spielberg ein. Rasch trat Elfie hinter die Statue der Tyche.
Spielberg ging von einem Automaten zum anderen und ließ die Einnahmen in einen Beutel gleiten.
"Mehrere Passagiere haben sich bei mir beschwert." Kaisers Stimme wurde lauter. "Sie hatten die Situation offenbar nicht im Griff. Solche peinlichen Vorfälle dulde ich nicht auf meinem Schiff."
Spielberg blieb vor dem letzten Automaten stehen und wandte sich Kaiser zu.
"Ich wusste gar nicht, dass die Aphrodite Ihnen gehört", sagte er und musterte Kaiser verächtlich von Kopf bis Fuß. "Meines Wissens befindet sie sich im Eigentum der Familie Claaßen."
"Jetzt stellen Sie sich nicht dumm", herrschte Kaiser ihn an. "Sie wissen genau, wie ich das meine. Als Cruise Director bin ich der verantwortliche Guest Relation Manager und für die aktive Betreuung und Kommunikation mit den Gästen zuständig."
"Zitieren Sie jetzt aus Ihrer Stellenbeschreibung?" Spielberg lachte abfällig auf. "Was wollen Sie überhaupt von mir?"
"Die Aphrodite ist ein schwimmendes Luxushotel. Fünf Sterne Superior", entgegnete Kaiser hitzig. "Die Gäste erwarten eine kultivierte und exklusive Atmosphäre - und keine billigen Szenen. Sie hätten viel früher merken müssen, dass die Vandertrost betrunken ist. Und dann wäre es Ihre Aufgabe gewesen, sie diskret zu ihrer Kabine zu eskortieren."
"Das gehört garantiert nicht zu meinen Aufgaben", brauste Spielberg auf. "Außerdem haben Sie mir überhaupt nichts zu sagen. Das Casino untersteht nicht Ihrer Befugnis."
"Von Ihnen lasse ich mir nicht ans Bein pinkeln." Kaiser ging drohend einen Schritt auf Spielberg zu. "Wir bekommen demnächst einen Tester an Bord. Und Sie werden mir die Bewertung nicht versauen."
Er drehte sich abrupt um und stürmte zur Tür, so dass Elfie nicht mehr ungesehen verschwinden konnte.
Sie presste sich dicht an die Statue, zog den Bauch ein, hielt die Luft an und hoffte das Beste. Hätte die Göttin Tyche doch nur mehr Fleisch auf den Rippen gehabt oder wenigstens ein wallendes Gewand getragen!
Kaiser riss die Tür auf, ohne nach links und rechts zu sehen, und verschwand.
Elfie atmete erleichtert aus. Sie spähte vorsichtig um das Füllhorn der Tyche herum - und sah direkt in Spielbergs Augen.
Er stand nur ein paar Meter entfernt und musterte Elfie misstrauisch.
"Was tun Sie da?", wollte er wissen.
Elfie ging auf ihn zu und stellte sich vor.
"Herr Claaßen hat mich beauftragt, alle Abläufe auf dem Schiff zu überprüfen", erklärte sie.
"Sie sind also die Spionin." Spielberg grinste spöttisch. "Das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, uns zu belauschen. Oder sehen so Ihre Methoden aus?"
Elfie war empört. "Was erlauben Sie sich? Ich bin keine Spionin. Aber ich werde das Casino genauso wie alle anderen Bereiche genau unter die Lupe nehmen."
"Das werden Sie schön bleiben lassen", sagte Spielberg schneidend. "Sonst könnte das schlecht für Sie enden."
"Wollen Sie mir drohen?" Elfie schlug das Herz bis zum Hals.
"Sie haben mich schon verstanden." Spielberg bedachte sie mit eisigem Blick. Dann wandte er sich den Spieltischen zu und begann, die Trinkgeldkassen zu leeren.
Elfie war fassungslos. Mit kleinen Schritten tastete sie sich rückwärts zur Tür. Sie wagte es nicht, diesem Unhold den Rücken zuzukehren. Auf dem Gang angekommen, fing sie an zu laufen.
Sie zitterte so stark, dass es ihr erst nach mehreren Versuchen gelang, mit der Schlüsselkarte das Kabinenschloss zu öffnen. Schnell schlüpfte sie hinein, schloss die Tür und legte den Riegel vor.
Sie ließ sich aufs Bett sinken und atmete tief ein und aus, um ihren Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen.
So ein Scheusal war ihr noch nie unter die Augen gekommen. Dabei hatte sie wirklich schon einiges erlebt. Dieser Spielberg hatte unter Garantie etwas zu verbergen.
Allmählich verwandelte Elfies Angst sich in Wut. Sie schlug mit der Hand auf das Bett.
Von einem gemeinen Verbrecher würde sie sich nicht einschüchtern lassen - auf keinen Fall. Stattdessen würde sie sich zum Gegenangriff rüsten.